Polyvagaltheorie

Die Polyvagaltheorie – Eine Einladung, dich selbst neu zu entdecken

Vielleicht kennst du das: Du sitzt in einem Gespräch und plötzlich pocht dein Herz schneller, deine Gedanken rasen, dein Atem wird flach. Oder du fühlst dich plötzlich wie abgeschaltet – leer, distanziert, irgendwie „nicht mehr da“. Vielleicht passiert dir das auch in Momenten, die eigentlich harmlos sind: eine kritische Bemerkung, ein voller Raum, ein bestimmter Blick – und du bist wie „weg“ oder total angespannt.

Das kann sich sehr verwirrend anfühlen. Du fragst dich vielleicht: „Warum reagiere ich so heftig? Was stimmt nicht mit mir?“
Die Antwort lautet: Mit dir stimmt im Grunde alles. Dein Nervensystem macht genau das, was es gelernt hat – es versucht, dich zu schützen.

Vielleicht ein bisschen zu oft. Vielleicht zu stark. Aber es meint es gut mit dir.

Ein Nervensystem vergisst nichts

Dein autonomes Nervensystem ist wie ein innerer Wächter. Es überwacht ständig, ob du sicher bist oder nicht. Das läuft völlig unbewusst ab – du merkst es meist erst, wenn dein Körper schon reagiert hat. Dieses System arbeitet nach Erfahrungen, die du im Laufe deines Lebens gemacht hast. Auch in der frühen Kindheit.

Wenn du z.B. in einem Umfeld aufgewachsen bist, in dem du dich nicht sicher, nicht gesehen oder nicht reguliert gefühlt hast – dann hat dein Nervensystem gelernt: „Achtung, hier ist Gefahr.“ Das kann ganz subtil gewesen sein: ein ständiges Gefühl von Unberechenbarkeit, emotionale Kälte, Stress in der Familie, Überforderung, Vernachlässigung oder sogar Gewalt. Auch scheinbar „kleine“ Erlebnisse können tiefgreifende Spuren hinterlassen, wenn sie sich wiederholen oder nicht verarbeitet werden konnten.
Auch ein stressiges Arbeitsumfeld mit unfreundlichen Kollegen, herausfordernde Zeiten mit Verlust- und Existenzängsten kann Dein Nervensystem nachhaltig auf Gefahr prägen.

Und dein Nervensystem merkt sich diese Erfahrungen. Es merkt sich die Situationen, den Tonfall, Gerüche, die Körpersprache, das Gefühl im Bauch – und reagiert bei ähnlichen Reizen auch Jahre später noch so, als wärst du in Gefahr. Auch wenn du heute erwachsen bist, oder in einem anderen Lebenskontext, und die Situation objektiv sicher ist.

Das Nervensystem arbeitet immer für dein Überleben – nicht für dein Glück

Dein Nervensystem ist nicht darauf ausgerichtet, dass du glücklich bist. Es ist darauf ausgerichtet, dass du überlebst. Wenn es früher einmal „gefährlich“ war, sich zu zeigen, laut zu sein, Bedürfnisse zu haben oder Nähe zuzulassen – dann wird dein System genau in diesen Situationen heute Alarm schlagen. Es sendet Signale wie: „Achtung, lieber Rückzug!“, „Nicht zu viel zeigen!“, „Schnell raus hier!“

Diese Reaktionen sind tief verankerte Schutzmechanismen. Sie sind weder falsch noch „verrückt“. Sie sind Ausdruck von früher Not, die dein System heute immer noch abwehrt. Oft ganz automatisch.

Frühe Prägungen – späte Folgen

Vor allem in den ersten Lebensjahren ist dein Nervensystem extrem formbar. Es orientiert sich an deinen Bezugspersonen: Wirst du gesehen, getröstet, verstanden? Oder musst du dich anpassen, ruhig sein, „funktionieren“?

Wenn du als Kind lernen musstest, deine Bedürfnisse zu unterdrücken oder Gefühle zu verstecken, hat dein Nervensystem gelernt: „So wie ich bin, bin ich nicht sicher.“ Und dann entstehen Muster wie Überanpassung, Rückzug, ständige Alarmbereitschaft oder emotionale Taubheit. Nicht weil du es willst – sondern weil dein Nervensystem es so gelernt hat.

Es hat gelernt, dass die Welt gefährlich ist – und es tut alles, um dich zu schützen. Auch wenn es heute nicht mehr notwendig ist.

Diese alten Schutzstrategien zeigen sich z.B. als:

  • ständige Anspannung oder Nervosität
  • Rückzug aus Beziehungen
  • übermäßige Fürsorge für andere (und das eigene Bedürfnis vergessen)
  • Angst vor Nähe oder Verlust
  • das Gefühl, nicht „richtig“ zu sein
  • Prokrastination
  • Perfektionismus
  • Gedankenkreis bis Katastrophieren

Doch das muss nicht so bleiben. Du kannst deinem Nervensystem neue Erfahrungen schenken – sichere, nährende, mitfühlende Erfahrungen, die heilen. Und genau das ist die Essenz der Polyvagal informierten Begleitung.

Traumatische Erfahrungen als Verstärker

Wenn du zusätzlich traumatische Erlebnisse gemacht hast – also Situationen, die dein System völlig überfordert haben – dann können sich diese Reaktionsmuster noch verstärken. Das Nervensystem bleibt „stecken“ in einer Art Daueralarm oder Erstarrung. Es hat gelernt, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Solche Traumareaktionen sind keine Schwäche – sie sind Ausdruck deiner Überlebensintelligenz. Doch sie brauchen Zeit, Raum und oft Unterstützung, um sich wieder zu regulieren.

Was du daraus lernen kannst

Wenn du verstehst, warum dein Nervensystem überreagiert, kannst du milder mit dir werden. Du musst nicht mehr gegen dich kämpfen. Du kannst anfangen, dich selbst zu begleiten.
Sanft.
Mit Verständnis.
Du darfst lernen, deinem Körper neue Erfahrungen zu schenken:
Sicherheit.
Nähe.
Selbstwirksamkeit.
Kleine Impulse, die deinem System zeigen: „Es ist okay. Ich bin sicher. Ich darf atmen. Ich darf da sein.“

Du musst das nicht allein schaffen. Es ist okay, dir Unterstützung zu holen. In einem sicheren Rahmen, mit einem Gegenüber, das dein Nervensystem versteht und dir helfen kann, neue Wege zu gehen. Schritt für Schritt.

Denn dein Nervensystem ist lernfähig. Es kann sich verändern. Und du kannst dabei lernen, dir selbst ein sicherer Ort zu werden.

Safety is the presence of connection
Sicherheit ist die Anwesenheit von Verbindung

Dr. W. Stephen Porges – Professor der Psychiatrie

Was ist die Polyvagaltheorie eigentlich?

Die Polyvagaltheorie wurde von Dr. Stephen Porges inden 1990er Jahren entwickelt. Sie erforscht, wie unser Autonomes Nervensystem – also der Teil unseres Körpers, der automatisch und unwillkürlich auf Sicherheit, Stress, Bedrohung und Gefahr reagiert – unser Verhalten, unsere Gefühle und vorallem unsere sozialen Beziehungen beeinflusst.
Porges hat dabei entdeckt, dass unser Nervensystem nicht nur in Kampf oder Flucht reagiert, sondern dass es noche einen dritten Zustand gibt: die soziale Verbundenheit.

Das klingt vielleicht erstmal theoretisch , doch die Theorie hat ganz praktische Auswirkungen: Sie erklärt dir, warum du in bestimmten Situationen so reagierst, wie du reagierst.
Und noch wichtiger: Sie zeigt dir Wege, wie du dein Nervensystem beruhigen und dich Schritt für Schritt weider sicher und verbunden fühlen kannst.

Die drei Zustände deines Nervensystems

Stell dir dein autonomes Nervensystem wie einen inneren Schalter vor, der – je nach Situation – zwischen drei Zuständen wechselt:

  1. Sicherheit und soziale Verbundenheit
    Die Signale im Außen werden vom autonomen Nervensystem als sicher eingestuft. In diesem Zustand fühlst du dich sicher, verbunden und offen. Du kannst lachen, zuhören, kreativ sein, Mitgefühl empfinden. Es ist der Zustand, in dem du ganz du selbst bist. Dein Herzschlag ist ruhig, deine Atmung gleichmäßig, dein Blick offen. Hier bist du präsent – im Hier und Jetzt.
  2. Gefahr
    Die Signale werden vom autonomen Nervensystem als Gefahr eingestuft. Wenn dein Nervensystem Gefahr wittert – ob real oder nur so empfunden – schaltet es in den Alarmmodus. Dein Herz rast, dein Atem wird flacher, du bist angespannt. Du bist bereit zu kämpfen oder zu fliehen. In diesem Zustand fühlst du dich vielleicht gereizt, ängstlich oder gestresst. Dein Körper ist auf Überleben eingestellt.
  3. Lebensbedrohung
    Wenn Kampf oder Flucht nicht möglich sind, dann zieht sich dein Nervensystem ganz zurück. Du fühlst dich wie betäubt, abgeschnitten, leer. Dein Herzschlag verlangsamt sich, du hast keine Energie mehr, nichts erreicht dich mehr. Es ist, als wärst du innerlich verschwunden – ein Schutzmechanismus deines Körpers, um mit überwältigendem Stress umzugehen.

Bei Signalen von Gefahr passiert demnach Folgendes:

Wenn dein Nervensystem eine Gefahr wittert – und das kann auch eine gefühlte Gefahr sein, nicht unbedingt eine reale – dann läuft in dir ein ganz bestimmtes Programm ab. Als allererstes suchst du instinktiv nach einem sicheren Gegenüber.
Ganz automatisch scannt dein System deine Umgebung: Gibt es hier jemanden, der mir Sicherheit gibt? Einen wohlwollenden Blick, einen ruhigen Tonfall, eine vertraute Stimme?

Wenn du diese soziale Sicherheit nicht findest, schaltet dein Nervensystem in den nächsten Gang: Der Sympathikus springt an und versetzt dich in Alarmbereitschaft. Jetzt geht es um Kampf oder Flucht. Dein Herz schlägt schneller, dein Atem wird flacher, deine Muskeln spannen sich an. Alles in dir ist auf Überleben eingestellt.

Aber was passiert, wenn auch dieser Versuch scheitert – wenn du weder Sicherheit findest noch fliehen oder kämpfen kannst? Dann zieht sich dein System komplett zurück. Du fällst in einen Zustand der Erstarrung oder Dissoziation. Vielleicht fühlst du dich dann leer, abgeschnitten, wie betäubt. Das ist der dorsale Vaguszustand – dein System interpretiert: Lebensgefahr.

Und genau hier wird’s wichtig: Wenn du dich aus diesem Zustand der Erstarrung wieder zurück in die Verbindung bringen willst, musst du nicht sofort versuchen, dich „gut“ oder „sicher“ zu fühlen. Dein Körper braucht eine gewisse Reihenfolge, um wieder in Balance zu kommen.

Das bedeutet: Du kannst den Weg nicht abkürzen. Du musst den Weg zurück Schritt für Schritt gehen – so, wie dein Nervensystem ihn auch eingeschlagen hat. Also: Vom Rückzug (dorsaler Vagus) über die Aktivierung (Sympathikus) zurück in die soziale Verbundenheit (ventraler Vagus). Erst wenn du wieder etwas Energie spürst, eine gewisse Lebendigkeit oder Spannung, kann dein System sich neu orientieren und Sicherheit erleben.

Verlange also nicht von dir, sofort ruhig und verbunden zu sein. Lass deinem Körper die Zeit, die er braucht. Und begleite dich dabei – freundlich, mitfühlend und Schritt für Schritt.

Grundlegend sind diese Zustände nicht „gut“ oder „schlecht“ – sie sind schlichtweg überlebensnotwendig.

Wie du dein Nervensystem unterstützen kannst

Es gibt viele kleine, feine Wege, dein Nervensystem wieder in Balance zu bringen. Hier sind einige Impulse für dich:

  • Atmung: Eine langsame, tiefe Atmung – besonders das lange Ausatmen –signalisiert deinem Körper: Es ist sicher.
  • Berührung: Eine warme Hand auf dem Herzen, ein sanftes Streicheln über den Arm, eine Umarmung – all das kann dein Nervensystem beruhigen.
  • Augenkontakt: Wenn du mit jemandem in ruhigem, wohlwollendem Kontakt bist, kann das dein Gefühl von Sicherheit stärken.
  • Natur: Der Blick in die Weite, das Rauschen der Bäume, das Vogelzwitschern – die Natur ist eine kraftvolle Quelle für Regulation und Erdung.
  • Bewegung: Sanfte Bewegung wie Spazierengehen, Tanzen, Schaukeln oder Yoga helfen, angestaute Energie abzubauen und wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
  • Stimme und Musik: Summen, Singen, das Hören beruhigender Musik – all das aktiviert deinen Vagusnerv. Auch das Safe and Sound Protocol (SSP) nach Porges arbeitet mit speziell gefilterter Musik, um das Nervensystem gezielt zu entspannen.

Dein Körper ist nicht dein Feind

Vielleicht hast du dich oft gefragt, warum dein Körper nicht einfach „funktioniert“. Warum du so sensibel reagierst. Warum du dich nicht entspannen kannst. Doch dein Körper ist nicht gegen dich – er arbeitet für dich. Manchmal eben auf alten Wegen. Wege, die einst wichtig waren, um zu überleben.

Dein Körper will dich schützen. Und du kannst lernen, mit ihm zu kooperieren. Mit Verständnis, mit Geduld, mit kleinen Schritten. Du darfst wieder Freundschaft schließen mit deinem Körper, deinem Herzen, deinem inneren System.

Das Ziel ist nicht Perfektion – sondern Verbindung

Vergiss den Anspruch, „perfekt“ reguliert zu sein. Es geht nicht darum, immer gelassen zu bleiben, nie zu wanken, stets stark zu sein. Es geht um etwas Tieferes: Die Fähigkeit, dich selbst zu begleiten. In jedem Zustand. Mitfühlend. Freundlich. Zu wissen: Ich kann mich regulieren. Ich kann mir helfen. Ich bin da für mich.

Diese innere Sicherheit ist das größte Geschenk, das du dir machen kannst. Und es ist möglich – Schritt für Schritt.

Du bist kein Problem, das gelöst werden muss – du bist ein Mensch, der gesehen werden will

Die Polyvagaltheorie lädt dich ein, dich selbst mit neuen Augen zu betrachten. Nicht als „zu ängstlich“, „zu sensibel“, „zu kompliziert“. Sondern als Mensch mit einem Nervensystem, das seine Geschichte erzählt. Du bist kein Defekt – du bist Ausdruck von Überlebensintelligenz.

Lass uns gemeinsam hinschauen. Forschen. Mitfühlen. Heilen.